von Hubert Haensel
Atlans Erregung vor dem Zeitsprung bezeichne ich als eine Mischung aus Fatalismus und infantiler Neugierde. Ich sehe es als meine
Aufgabe an, ihn vor möglicherweise folgenschweren Fehleinschätzungen prekärer Situationen zu warnen, doch in jenen Minuten hätte
nichts und niemand ihn zur Umkehr bewegen können .
"Vom Regen in die Traufe kommen", nennen es die Terraner, wenn jemand eine Bedrohung gegen eine andere eintauscht. In unserem Fall
hat Atlan zwar die zellkernschädigende Strahlung unbeschadet überstanden, er wurde dann aber vom Rechengehirn der Station
aufgrund der besonderen Impulse seines Zellaktivators als MdI identifiziert, als Meister der Insel. Schaltung Sternentau wurde seinetwegen
aktiviert - ein Sprung in die tiefste Vergangenheit.
Wir wissen inzwischen, daß die in der Yssods-Wüste von Traversan entdeckten Station vor ungefähr 50.000 Jahren von Lemurern
gebaut wurde. Zu einem Zeitpuknt, als der Krieg gegen die Haluter die Galaxis verwüstete. Der Sprung in die Vergangenheit, um
beachtliche 1,2 Millionen Jahre zurück auf der Zeitlinie, hätte der Beschaffung von Waffen dienen sollen. Ich versuche, die
Verzweiflung der Lemurer in jeder Konsequenz nachzuvollziehen, die ihnen eine solche Handlungsweise vorschrieb. Immerhin scheint
vor 1,2 Millionen Jahren in diesem nordwestlichen Sektor der Michstraße ein fürchterlicher Krieg getobt zu haben, und damit stellt sich
sofort die Frage, ob Lemur nicht einen noch größeren Gegner heraufbeschworen hätte.
Wie dem auch sein, gravierende technische Mängel haben den gewaltigen Zeitsprung nie zugelassen. Atlan ist in der jüngeren
Vergangenheit gestrandet. Er hat den Planeten Trversan nicht verlassen. Die Steuerung der Zeitmaschine war zumindest hinsichtlich
aller astrophysikalischen Details zuverlässig. Mir ist nicht bekannt, mit welcher Geschwindigkeit Traversan das galaktische
Zentrum umkreist, aber schon eine fehlerhafte Stelle weit nach dem Komma hätte genügt, die Station im luftleeren Raum "materialisieren"
zu lassen. Mit allen sich daraus ergebenden Folgen: keine Energie für einen Notruft; kein Beiboot zum Verlassen der Station; kein
SERUN und weder Wasser noch Nahrungmittel.
Mittlerweile schreiben wir den 20. Prago des Tedar 12.402 da Ark, nach terranischer Rechnung Ende März des Jahres 5772 v. Chr. Dies
ist die Zeit des Tai Ark'Tussan, des Großen Arkon-Imperiums. Mehr als fünfzigtausend Welten gehören dem Imperium an, das sich
in seiner kriegerischen Blütezeit befindet. Die Maahk-Kriege sind noch nicht beendet , jedoch herrscht bereits eine Phase der
Beruhigung. Gekennzeichnet ist sie durch einen stärker werdenden Hang vor allem in Adelskreisen, sich dem eigenen Wohl zu widmen.
Verschwendung und Prunksucht treten an die Stelle der Expansion, Korruption und die Tendenz zur Abspaltung durchziehen
das Reich.
Atlan kennt diesen Abschnitt der Geschichte nicht mehr aus eingenem Erleben; er lag damals bereits im Tiefschlaf in seiner
Unterwasserkuppel auf einer unbedeutenden Welt namens Larsaf III, in einigen Jahrtausenden besser bekannt als Terra.
Seltsam irrational sind Atlans Empfindungen. Er sieht sich mittlerweile als eine Art "verlorenener Sohn", der in die Heimat
zurückgekehrt ist. Die Liga Feier Terraner, das Kristallimperium, all das scheint plötzlich unendlich weit entfernt und interessiert nur noch
am Rande. Der Versuch, die Energieversorgung der Station wiederherzustellen - ist er nur ein Alibi?
Daß Atlan innerlich zerrissen ist, gesteht er nicht einmal sich selbst ein. Er schwankt zwischen seiner Freundschafft zu den Menschen und
dem unerklärbaren Gefühl, das ihm einreden will, es sei kein Zufall, daß er ausgerechnet in diese Zeit verschlagen wurde. Er, als
Kristallprinz Mascaren Gonozal heute vor rund 2250 Standardjahren designierter Nachfolger des Imperators Gonozal VII, hätte die Kraft, den
drohenden Verfall des Großen Imperiums aufzuhalten. Sein Vorteil ist, daß er weiß, was die Zukunft bringt. Oder er glaubt, es zu wissen,
denn wirklich sicher sein kann man dessen nie.
Über lange Zeit hinweg sah es so aus, als hätte Atlan für immer mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. Oberflächlich glaubt er auch
noch daran. Aber weshalb träumt er wieder von Fartuloon, dem Bauchaufschneider, und seinem späteren Kampf gegen Orbanaschol III.
den Mörder seines Vaters? Atlan war noch ein Kind gewesen, als Fartuloon ihn vor den Häschern Orbanaschols gerettet hatte.
Was läßt den Unsterblichen so reagieren? Er will nicht zuhören, wenn ich ihm vorwerfe, daß eine Frau an seinen Anwandlungen
schuld hat. Vom ersten Augenblick an, als er Prinzessin Tamarena da Traversan gegenüberstand, war er auf eine schwer zu
beschreibende Art von ihr fasziniert. Eigentlich nur ihretwegen hat er in den Kampf gegen die Flotte des Sonnenkurs eingegriffen und
die für Traversan siegreiche Entscheidung herbeigeführt.
Atlan kann nicht mehr zurück. Er muß den eingeschlagenen Weg bis zum Bitteren Ende gehen, und er muß sich bald über seine
Motivation klarwerden. Erwächst sie aus der Zuneigung zu Tamarena oder aus dem Gefühl, der Heimat so nahe zu sein wie lange
nicht mehr? Heimat definiert man eben nicht nur als einen bestimmten Ort, eine Stadt oder gar einen Planeten - Heimat ist auch die
zeitliche Koordinate, die der Abbildung der Erinnerung am deutlichsten entspricht.
Eines jedenfalls ist unumstößlich: Atlan hat längst begonnen, dem Schicksal in die Speichen zu greifen. Er könnte in dieser Zeit eine neue
Aufgabe finden.
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