Das Feuerwerk
Die Invasion der mehr als drei Milliarden Konzepte auf der Erde kommt für die kleine Schar der Terra-Patrouille wie ein Schock. Nicht nur hat sie sich an den Anblick der öden Städte, der leeren Felder längst gewöhnt, sie wär überdies aufgrund der Aussagen Athosiens der Meinung, daß die Konzepte unmittelbar in ihrer neuen Heimat, EDEN II, der einen Hälfte des ehemaligen Planeten Goshmos Castle, materialisieren würden. Die Anwesenheit von drei Milliarden Besuchern - „Eindringlingen", kommt Jentho Kanthall viel leichter über die Lippen - wirft binnen kürzester Zeit erhebliche Probleme auf. Drei Milliarden Leute, die zwar geistig eine neue Art bilden, körperlich aber noch immer Menschen sind, wollen versorgt werden. Und an Versorgung hat die alte Erde fast nichts mehr anzubieten. Die Depots waren, als Terra in den Schlund stürzte, infolge der Mißwirtschaft der aphilischen Regierung, nur zu einem Viertel gefüllt. Viele Depots wurden nach der Großen Katastrophe von der in Aufruhr geratenen Natur, die der Kontrolle NATHANs nicht mehr unterlag, zerstört. In denen, die der Zerstörung entgingen, sind viele der Lagergüter inzwischen unbrauchbar geworden. Bereits einen Tag nach Ankunft der Konzepte muß man sich fragen, wie eine solche Menge wenigstens mit einem Minimum an Nahrungsmitteln versorgt werden kann.
Diese Frage scheint allerdings die Konzepte nicht zu beunruhigen. Sie geben sich wie Touristen. Sie essen, was sie finden, und wenn sie nichts finden, wird ihr seelisches Gleichgewicht nicht davon berührt. Sie machen keinerlei Anstalten, sich an der Behebung von Schäden zu beteiligen. Sie wandern neugierig umher, und wenn sie ein Depot leer oder zerstört finden, dann gehen sie weiter bis zum nächsten, um ihren Hunger dort zu stillen. Für Jentho Kanthall und seine Leute ist eine derartige Verhaltensweise unverständlich. Schlimmer noch: sie erregt ihren Zorn. Sie beginnen, am „Plan der Vollendung" zu zweifeln. Ist es wirklich so, daß ES dem „normalen" Menschen den höchsten Stellenwert beimißt und sich um die Konzepte nur kümmert, solange sie seiner Hilfe bedürfen? Ist es wirklich so, daß die Erde weiterhin die Heimat der Menschen bleiben und die Konzepte sich auf einer der beiden Hälften von Goshmos Castle ansiedeln sollen? Oder war das alles nur ein groß angelegtes Täuschungsmanöver? Werden die Konzepte die Erde übernehmen und die Menschen unterdrücken ?
Das Große Feuerwerk gibt die Antwort auf alle diese Fragen. Der Plan der Vollendung ist ein Abkommen zwischen ES und NATHAN. Es stand schon immer fest, daß es eines gewichtigen Anstoßes von außen bedürfe, um NATHAN wieder zu aktivieren. Manchmal war die Rede davon. daß NATHAN nicht eher erwachen werde, als bis die Menschheit zur Erde zurückkehre. Es zeigt sich jetzt, daß dieser Spekulation ein nicht unerheblicher Wahrheitsgehalt innewohnt. Die Menschheit ist zurückgekehrt - in der Gestalt von mehr als drei Milliarden Konzepten, die über zwanzig Milliarden Bewußt-seine ehemaliger Terraner verkörpern. Und NATHAN wird augenblicklich aktiv. Allerdings nicht zugunsten der Erde. Die Maschinerie des Mondesinnern läuft auf höchsten Touren - aber was sie produziert, ist nicht für die Erde gedacht, sondern für EDEN II, die neue Heimat der Konzepte. Mit wahrhaft atemberaubender Schnelligkeit entstehen dort Gebäude, Produktionsanlagen, Kraftwerke. Berge türmen sich auf, Flußläufe werden in den platten Boden gefräst, Gestein verwandelt sich in metertiefen, humushaltigen Erdboden. Konserviertes Saatgut wird aus den sublunaren Lagerhallen nach EDEN II verschifft. Für die Erde produziert NATHAN vorläufig nichts - wenigstens nichts Greifbares. Aber seine Dienstleistungen leben wieder auf. Die Klimakontrolle beginnt, allmählich wieder zu funktionieren. Ganze Armeen von Robotern erwachen aus ihrer Todesstarre und beginnen, die Trümmer der Großen Katastrophe zu beseitigen. Kraftwerke laufen wieder an. Die automatischen Transportsysteme funktionieren wieder.
Die wenigen Menschen, die die Erde bevölkern und deren Aufmerksamkeit zunächst durch die Vorgänge auf EDEN II abgelenkt war, fangen an zu verstehen. Die Rückkehr der Menschheit in der Gestalt von drei Milliarden Konzepten hat NATHAN reaktiviert. Vorläufig arbeitet er in der Hauptsache für EDEN II und ist bemüht, den Konzepten beim Einrichten ihrer neuen Heimat behilflich zu sein. Vorerst als Nebenprodukt entsteht dabei die Versorgung der Erde mit Dienstleistungsfunktionen.
Aber der Tag ist abzusehen, da die Konzepte die Erde verlassen und ihre neue Heimat beziehen werden. Und was geschieht dann mit NATHAN? Er wird aktiv bleiben. Er wird seine Tätigkeit, deren Früchte auf EDEN II nun nicht mehr gebraucht werden, der Erde zugute kommen lassen. NATHANs Wiedererweckung war nicht eine vorübergehende Episode. Die Hyperinpotronik wird weiterhin tätig sein, die Spuren der Katastrophe beseitigen und Terra wieder in eine zivilisierte Welt verwandeln. Genau das ist es, was die Leute von der TerraPatrouille und das Bull-Danton-Waringer-Team auf Luna sich immer gewünscht haben. Jetzt aber, da es Wirklichkeit wird, fängt man an, sich zu fragen: Was soll NATHANs Vollaktivität, wenn auf der Erde doch noch nicht einmal einhundert Menschen leben? Wozu sollen all die Kraftwerke laufen? Für wen sollen die Produktionsstätten produzieren, deren Maschinen jetzt wieder produktionsbereit sind ? Wem dient die Klimakontrolle, die selbst die Polarregionen allmählich wieder bewohnbar macht, wenn es doch niemand gibt, der sich dort ansiedeln möchte? Oder weiß NATHAN etwa schon, daß die Erde in Kürze eine weitaus zahlreichere Bewohnerschaft haben wird ?
Kurt Mahr
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